In einer Welt voller Lärm, Reizüberflutung und ständiger Selbstoptimierung sehnen sich viele nach Stille. Nach etwas Echtem. Nach einem Ort in sich selbst, der nicht schwankt, wenn alles andere wankt.
Vor über zweitausend Jahren hat ein indischer Weiser namens Patanjali dafür eine Karte gezeichnet – keine äußere Landkarte, sondern einen inneren Pfad: den achtgliedrigen Weg des Yoga, bekannt als Ashtanga.
Doch dieser Pfad hat wenig mit dem zu tun, was heute oft unter Yoga verstanden wird. Es geht nicht um Flexibilität oder Perfektion. Es geht um Wahrhaftigkeit, innere Freiheit und Frieden.
Über das Leben Patanjalis ist wenig bekannt – vielleicht, weil er selbst nie im Vordergrund stand. Was bleibt, ist sein Werk: die Yoga Sutras, eine Sammlung von 195 kurzen, präzisen Versen. Sie sind wie Tropfen reiner Essenz – keine Philosophie zum Lesen, sondern zum Erleben.
In seinem berühmtesten Sutra schreibt Patanjali:
„Yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ“ – Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen des Geistes.
(Sutra 1.2)
Und damit beginnt die Reise. Nicht nach außen – sondern nach innen.
Patanjali beschreibt in seinen Sutras acht aufeinander aufbauende Stufen, die wie Stufen einer inneren Leiter sind. Sie beginnen im Außen, führen über Körper und Atem nach innen – bis zur völligen Verschmelzung mit dem Sein.
Die Yamas sind die Basis. Sie zeigen, wie wir mit anderen umgehen sollen. Dazu gehören Gewaltlosigkeit (Ahimsa), Wahrhaftigkeit (Satya), Nicht-Stehlen (Asteya), Mäßigung (Brahmacharya) und Besitzlosigkeit (Aparigraha).
Sie erinnern uns daran, dass innerer Frieden nicht entstehen kann, wenn wir im Außen Chaos erzeugen.
Niyamas richten sich nach innen: Reinheit, Zufriedenheit, Disziplin, Selbstreflexion und Hingabe.
Sie laden uns ein, unsere täglichen Entscheidungen mit Bewusstsein zu füllen.
Was nähre ich in mir – und was darf gehen?
Der körperliche Teil des Yoga ist nur ein Glied – nicht das Ziel. Patanjali spricht hier von einem stabilen, bequemen Sitz – nicht von akrobatischen Positionen.
Ein Körper, in dem der Geist zur Ruhe kommen kann.
Durch den Atem regulieren wir unser Nervensystem, unsere Gedanken, unser inneres Feuer. Pranayama bedeutet nicht nur „Atemübung“, sondern die Ausdehnung der Lebensenergie.
In dieser Stufe beginnen wir, die Aufmerksamkeit von außen nach innen zu lenken. Die Sinne ruhen. Die Welt wird leiser. Und was bleibt, ist: du selbst.
Ein Punkt. Ein Moment. Ein Fokus. Dharana ist das Halten des Geistes – das Loslassen von Zerstreuung. Es ist die Vorbereitung auf Meditation, der Raum zwischen Gedanken.
Hier beginnt das tiefe Sehen. Nicht nach außen, sondern nach innen. Meditation ist kein Tun, sondern ein Sein. Ein Zustand, in dem sich das Selbst dem Selbst zeigt.
Die letzte Stufe ist die Verschmelzung. Kein Ego, keine Trennung – nur reines Gewahrsein. Ein Zustand von innerer Stille, jenseits von Worten.
Gerade heute ist dieser Pfad aktueller denn je. Viele Menschen sind erschöpft, ängstlich, überfordert. Sie funktionieren – aber sie fühlen sich nicht mehr.
Patanjalis Lehre erinnert uns daran, dass echter Wandel nicht im Außen beginnt – sondern im Innern.
Besonders für Frauen, die in dieser Welt oft zu viel leisten, zu selten gehört werden und sich selbst verlieren, ist dieser Pfad ein Weg zurück zur eigenen Wahrheit. Ein liebevoller, aber klarer Prozess der Selbstbegegnung, Heilung und Erdung.
„Wenn du deinen Geist still machst, wird deine Seele sprechen.“
– frei nach Patanjali
Patanjalis Weg ist kein Ziel, das erreicht werden muss. Er ist eine Einladung. Ein tägliches Erinnern. Eine stille Revolution – gegen das Getrieben-Sein und für ein Leben mit Tiefe, Klarheit und Mitgefühl.
Wenn du den Wunsch spürst, dich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch und geistig zu stärken, dann ist dieser Weg vielleicht auch dein Weg.
Denn: Yoga ist nicht etwas, das du tust. Es ist das, was du bist, wenn du aufhörst, dich zu verlieren.
Emanuel Wintermeyer
Turiya Yoga
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